Daniel konnte nichts. Da war er sich sicher. Schon morgens, wenn er zur Schule ging, der Raureif an den Halmen der übriggebliebenen Grashalme Sterne schlug, sah er die größten Kunsttücke. Marco, mit dem Longboard, der in sanftem, surrendem Ton an ihm vorbei schwebte. Grazil, wie ein Tänzer. Daniel war nicht grazil, kein Tänzer. Er hatte das Gefühl, dass die Schwerkraft ihn weiter herunterzog als alle anderen, so dass er nicht schwebte, sondern ging wie auf dem Jupiter.
David und Jonas begrüßten sich mit einem Handschlag, der, so schien es, meilenweit aufploppte. Nicht mal das konnte Daniel, dachte er, als er die schmutzigen Stufen in den ersten Stock des Schulgebäudes ging, die Ecken noch voll mit einer Mischung aus Dreck und Haaren und einem Strohhalm, der einmal in einer Trinktüte gesteckt haben musste. Er betrat die Klasse und sah Gesichter, rote Wangen; es wurde gelacht, gelächelt, geschäkert. Er ging zu seinem Platz, rechts hinten, da, wo ein kleines Loch unterhalb des Fensters für einen kühlen Zug sorgte, der ihm Gänsehaut bescherte. Er sah sich weiter um. Sara hatte schon auf einem linierten Blatt einen Titel geschrieben, „Schulaufgaben“, in schwarzer, ziselierter Linie, darüber, mit violettem Marker nochmals nachgezogen, direkt über den Titel das Datum. Sie schrieb wie gedruckt. Das konnte sie sehr gut. Sehr gut.
Daniel konnte nichts.
Dann würde der ewiggleiche Beginn folgen, Herr Stöcker, Augen auf, aufstehen, wie eine Sekte im Chor begrüßen, setzen, Buch aufschlagen, Heft aufschlagen, dämmern. Aber heute war es nicht so. Eine Lehrerin kam herein, die Daniel noch nie gesehen hatte. Selbst Josch war überrascht, er wuschelte seine Haare, wie er es sonst nur machte, wenn er mit Marco in der Ecke, drüben bei der Tanne stand und auf Sara wartete, die meist mit Lisa noch ihren Lidstrich nachzog. Die Lehrerin sprach wie eine Tonleiter aus Watte, melodisch und sanft. „Die eigenen Stärken“, darum solle es gehen. Aufruhr in der Klasse, Tuscheln, Sprüche unter der Gürtellinie, ja, die Männlichkeit, das wollten alle können, aber keiner konnte oder zumindest glaubte Daniel das nicht. Zumindest das nicht, das andere konnte er ja sehen.
Er sagte, er müsse aufs Klo. Durfte gehen. Blieb, so lange er nur konnte. Er konnte nicht über Stärken reden, weil er nichts konnte. Er kam viel später, die Klasse gerade still. Die Lehrerin winkte ihn herüber, sprach unter ihrem Atem: „Es geht darum zu schreiben darüber, was man mag.“ Er wollte protestieren, denn das hatte ja nichts mit den Stärken zu tun, was man mag, sondern mit dem, was auf einen zukam, was man wahrnahm, aufnahm und weiterdachte. Aber er sagte nichts, sondern bedankte sich und setzte sich in seine Luftschleuse.
Er versank in Gedanken über seinen Lieblingsplatz, drüben, beim Weiher, oberhalb der Stadtgrenze, dort, wo er manchmal saß und sich notierte, was alles um ihm herum ihm sagte. Und manchmal flossen Tränen, weil es so schön war, aber auch so traurig, weil er nicht wusste, wie es noch näher kommen könnte. Er beschrieb die Verästelung der Pappel, die zwischen Feld und Weiher vereinzelt am Rand des steinigen Weges stand und deren Blätter im Wind zitterten, als würden sie erst in der Bewegung zu etwas werden, das der Mensch wahrnehmen kann.
Und dann klingelte es und alle gingen und standen auf und er ging nach vorne und gab den Zettel ab, drehte sich und schlurfte Richtung Tür, schon allein. Er drehte sich kurz um und sah, wie die Lehrerin ihre Braue nach oben zog und anhob, etwas zu sagen, es dann aber unterließ.
Dann ging er herunter und sah Josch, wie er ging, wie ein Model und Marco, der mit einem einzigen Kick sein Board nach oben schleuderte und stand wie in einer Modezeitschrift. Und er war traurig, dass er nichts konnte, nichts, was ihn irgendwie zu jemandem machte, mit dem man dort stehen konnte, auf dem Schulhof, bei allen anderen.
Aber vielleicht, dachte er. Ganz vielleicht. Wenn wir alle gehen würden zu dem Weiher, weil es dort ein Fest gäbe, bei dem alle wären und Zelte in verschiedenen Farben aufgestellt wären mit Girlanden, und es Lagerfeuer gäbe und Zusammensein ohne ziselierte Titel und Longboards und Lidschatten. Vielleicht wäre das schön. Und Daniel hätte ein Geheimnis. Nur er würde ein kleines Rascheln hören, von weiter Weg, an der Grenze von Weiher und Berg. Und nur er wüsste, es ist der Wind in den Pappeln.