Die so genannten Future Skills sind oft weit entfernt von der Karriere- und Berufswirklichkeit. Sie spielen mehr ein Wunschkonzert von Arbeitgebern und Bildungsforschern. Es könnte sowiesp ganz anders kommen. Was Sie wissen sollten, wenn Sie jetzt Karriereentscheidungen treffen.
Lena arbeitet als Softwareentwicklerin in einem Industrieunternehmen. Vor zwei Jahren galt sie als Musterbeispiel für eine nd MINT-Karriere. Sie hat die neuen Future Skills inhaliert, die im Future of Jobs Report 2025 des World Economic Forum als entscheidend für die kommenden Jahre beschrieben werden: analytisches Denken, Kreativität, Resilienz und technologische Fähigkeiten rund um KI, Big Data oder Cybersecurity.
Plötzliche Wiederkehr der Leistungskultur verunsichert
Gleichzeitig sitzt sie heute nicht mehr nur mit Menschen im Team. Da sind auch digitale Mitarbeiter, Bots mit eigenem Login, KI-Systeme, die Rechnungen prüfen oder ganze Prozesse übernehmen. Ihre Arbeitsumgebung hat sich gewandelt. Zusammenarbeit bedeutet für Lena inzwischen auch, Schnittstellen zu verstehen, Ergebnisse von Algorithmen zu prüfen und ihre Kommunikation so zu gestalten, dass digitale Agenten eingebunden werden. Dabei scheitert sie oft nicht an der Technologie, sondern an der Zusammenarbeit mit Kollegen. Hinzu kommt der plötzliche aufkommende Leistungsethos, wie ich ihn im SPIEGEL-Artikel “Lowperformer” beschrieben habe. Galt gestern nicht noch überall das “New Work”-Kredo? Sogar die Otto Group schaltet nun einen Gang höher auf Performance. Wenn das nicht mehr mit Ambiguitätstoleranz als mit analytischen Fähigkeiten zu tun hat…
Die normative Sicht der OECD und das Wunschkonzert der Arbeitgeber
Wie werden Arbeitgeber auf AI reagieren? Bereits jetzt wird sichtbar, dass viele den Weg über Entlassung und Neueinstellung gehen. Damit umzugehen wird vielen Arbeitgebern schwerfallen. Auch dafür braucht es Skills… Die Fähigkeit zur Selbstreflexion etwa — die auch nicht auftaucht.
Immerhin unterscheidet das OECD-Projekt Future of Education and Skills 2030 zwischen kognitiven und metakognitiven Skills. Metakognition, also das Denken über das Denken, ist aus meiner Sicht der Schlüssel. Denn aus ihr erwächst auch ein logischer Folgegedanke: Nehme ich solche Studien unkritsch an oder denke ich darüber nach, wie ich zu Schlüssen komme — und ob dieses Denken nun zieldienlich ist. Dass das eine wichtige Kompetetenz ist, sehen Arbeitgeber allerdings nicht.
OECD versus WEF: Kritisch betrachtet stehen hier zwei Logiken nebeneinander: die Bildungsvision einer wünschenswerten Gesellschaft auf der einen Seite und die kurzfristige Markterwartung von Unternehmen auf der anderen, die nicht immer deckungsgleich sind
. Eine dritte fehlt: Die Sicht auf mögliche, auch ganz andere Szenarien.
In den WEF-Future-Skills-Katalogen tauchen Themen wie Ambiguitätstoleranz nicht explizit auf. Ein weiterer wichtiger Aspekt fehlt sowohl der normativen als auch der Arbeitgebersicht: So wachsen analytische Skills ebenso wenig wie Ambiguitätstoleranz und Resilienz nicht auf Bäumen. Sie sind Folgen persönlicher Entwicklung. Dieses entwicklungsbezogene Denken ist den Forschern aber fremd. Vielleicht aus gutem Grund: Es ist kaum bis gar nicht messbar – zu komplex.
Future Skills OECD: Wie die Wirtschaft auf die AI-Entwicklungen reagieren wird
Der Widerspruch zwischen Prognosen und Realität
Der Future of Jobs Report prognostiziert, dass fast 40 Prozent der Kernkompetenzen bis 2030 ersetzt oder verändert werden. Gewinner sind analytisches Denken, Kreativität (in der Subforrm “kreatives Denken”), Resilienz und technologische Fähigkeiten.
Das ist interessant, denn gleichzeitig erleben Beschäftigte in genau diesen technologieintensiven Bereichen massive Rückgänge. Meine praktisch Erfahrung sagt, dass zumindest derzeit kreatives Denken keineswegs flächendecken gefragt ist — ja, teilweise sogar eher unbeliebt. Resilienz könnte schon eher relevant werden, allein schon aufgrund der Turbulenzen am Arbeitsmarkt.
Die Fakten: Siemens streicht in seiner Sparte Digital Industries 5600 Stellen, Bosch baut 13000 Jobs ab, IT-Stellenangebote in Deutschland gingen 2024 um rund zehn Prozent zurück, und laut Bitkom haben sechs Prozent der Unternehmen bereits IT-Fachkräfte entlassen, weitere 14 Prozent rechnen mit Abbau. Auch international kürzen Tech-Firmen in den USA und Asien massiv. Die Diskrepanz ist klar: Was in globalen Reports nach Wachstum klingt, zeigt sich im Markt oft als Schrumpfung.
Stellenmärkte zeigen oft ein anderes Bild
Online-Stellenmärkte haben sich teils von der Realität in den Städten entfernt. Ein Friseur sucht nicht notwendig im Internet, auch Gastrojobs landen oft eher in einem Aushang. So ist das Online-Bild teils schief: Weltweit sind danach Datenanalyse, KI, Cybersecurity und Cloud gefragt. Und die Skills? Schlagworte aus den Studien wie Kreativität oder kritisches Denken erscheinen selten. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung bestätigt, dass überfachliche Future Skills fast ausschließlich bei hochqualifizierten Positionen genannt werden.
Der Akademikerhype und unterschätzter Bedarf im Handwerk
Gleichzeitig wächst der Bedarf an handwerklichen Fachkräften. Selbst Sam Altman, CEO von OpenAI, betont, dass beim Bau von Rechenzentren Hunderttausende Elektriker und Handwerker gebraucht werden. Goldman Sachs prognostiziert einen drastischen Anstieg des Stromverbrauchs durch KI-Infrastruktur, Betreiber in Deutschland planen eigene Kraftwerke. Das sind Jobfelder, die in vielen Future-Skills-Katalogen nicht berücksichtigt werden, in der Realität aber eine zentrale Rolle spielen ‑wie auch das Café als Fluchtort für die Digitalelite. Und immer noch studieren die meisten Abiturienten das, was immer schon auf dem Menüplan stand, anstatt eine Lehre zu machen. Auch aufgrund solcher Studien, aus Gewohnheit, weil Eltern am Alten haften und eben aufgrund der Verzerrung zugungsten von Technologie im Internet.
Die Basis und das Problem der Messbarkeit
Alle Future-Skills-Modelle setzen voraus, dass Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen vorhanden sind. Doch PISA 2022 zeigt, dass viele Jugendliche diese Mindeststandards nicht erreichen. Ohne dieses Fundament lassen sich höhere Kompetenzen kaum entwickeln. Hinzu kommt, dass Future Skills wie Ambiguitätstoleranz schwer messbar sind. Die Frage ist, ob es überhaupt eine Kompetenz ist — oder nicht vielmehr eine Folge von Erfahrung. Kurzum: Kennzahlen erzeugen oft mehr Scheinpräzision als echte Orientierung.
Stärken entwicklungspsychologisch verstehen
Hinzu kommt: Future Skills entfalten ihre Wirkung erst, wenn sie an individuelle Stärken andocken. Menschen sind verschieden analytisch, kommunikativ, praktisch, kreativ, sportlich, denkschnell. Viel zu wenige wissen, was sie wirklich ausmacht. Sie kennen ihre Stärken nicht. Psychometrische Verfahren wie der Strength Finder greifen viel zu kurz, weil sie am Ende doch eher soziale Prägungen messen. Auch Eigenschaften wie sie die Big Five vermessen, zeigen nicht unbedingt auch gleich Stärken – also das, was jemand wirklich gut kann. Last but not least: Nicht alle Stärken sind zudem so einfach in abstrakte Worte zu fassen. Das ist bei Talenten nicht viel anders: Während das Fussballtalent wahrscheinlich auffällt, gehen manche kognitive Stärken — wie etwa die Fähigkeit zur Mustererkennung — manchmal in der sozialen Bewertung des Umfelds unter.
Entwicklungspsychologisch betrachtet wachsen Stärken auch nicht durch einmalige Trainings, sondern durch die Entfaltung von Metabewusstsein und die Lösung vom Ich-Fokus. Wer reflektiert, wie er denkt, handelt und lernt, kann seine Stärken bewusster einsetzen und weiterentwickeln. Erst dieses reflektierte Bewusstsein ermöglicht, Kompetenzen auf das nächste Entwicklungsniveau zu heben.
Tipps für Karriere und Karriereentwicklung: Worauf jetzt setzen?
Eltern, Absolventen und Berufstätige sind massiv verunsichert. Was soll man denn nun studieren, lernen oder wohin sich weiterentwickeln? Für mich als Karriereexpertin ist das klar:
1. Die Grundlagen als Basis stärken — plus kreative Skills
Lesen, Schreiben, Rechnen und allgemeines Datenverständnis (auch Statistik) sind für alle unverzichtbar. Ohne das überlassen wir die Welt der KI. Und diese KI reproduziert und verlängert nur unser Denken. Gefährlich. Ich meine dazu müssen auch kreative Skills gehören, Musizieren und Malen, aber auch Werken.
2. Hybride Zusammenarbeit trainieren
Lernen Sie, digitale Agenten in Prozesse einzubinden, ihre Ergebnisse kritisch zu prüfen und KI als „Co“ zu nutzen. Dazu muss man jedoch verstehen, was KI leisten kann und wo sie ihre Biasses hat.
3. Selbstdenken: Persönliche Entwicklung fördern
Die Welt sehen und verstehen – das geht uns immer öfter ab. Wir lassen uns Dinge vorkauen und hören auf selbst zu denken. Wie bildet man sich eine eigene Meinung? Viele wissen das nicht. Übrigens: Dazu gehört auch das Fühlen. Denken ohne Fühlen gibt es nicht. Denn Sachlichkeit ist nicht möglich, wenn ich emotional verstrickt bin.
4. Digitale Kompetenzen — nicht ohne Medienkompetenz
Experten empfehlen gern digitale Tools. Ich meine, wichtiger ist das Verständnis für Zusammenhänge, die Tools sind nachgelagert. Zum Beispiel müssen alle verstehen, wie Chatbots zu ihren Einschätzungen kommen, bevor sie sie nutzen. Medienkompetenz gehört für mich dazu.
5. Stärken finden und systematisch ausbauen
Investieren Sie dort, wo Freude und Stärke zusammentreffen. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Gut möglich, dass wir sogar in eine Zeit laufen, die menschliche Fähigkeiten wieder viel höher bewertet als technische. Oder in eine Gig-Ökonomie, wo wir von KI engagiert werden… Es gibt derzeit kein sicheres Szenario.
6. Antizyklisch denken, Hypes meiden
Die unbeliebten Jobs der Vergangenheit könnten morgen megaattraktiv sein – Friseure, Gastronomen, Elektriker, Strassenbauer, Altenpfleger. Also lieber nicht auf das setzen, was gerade gehypt wird. Gleiches gilt für alle Themen. Jeder Hype zeigt nur eins: Das bald eine Korrektur kommen muss.
7. Teamskills fokussieren
Ziemlich sicher wird es in der Zukunft wachsende wechselnde Zusammenarbeit geben. Das bedeutet, wir müssen lernen, uns immer wieder neu zu koordinieren. Dazu gehört auch der Umgang mit Feedback und die Fähigkeit, daran zu wachsen…. Auch nicht ganz unerheblich: Die Fähigkeit, sich auf etwas zu konzentrieren, das über den eigenen Interessen steht. Durchaus wichtig auch für Führungskräfte.
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Quellen:
- World Economic Forum, Future of Jobs Report 2025
- OECD, Future of Education and Skills 2030
- OECD, PISA 2022 Ergebnisse
- World Economic Forum (2025): The Future of Jobs Report 2025. P21, Framework for 21st Century Learning
- Europäische Kommission, DigComp 2.0
- Stifterverband/McKinsey, Future Skills
- Bertelsmann Stiftung, Kompetenzen für morgen
- In-demand Tech Skills World Economic Forum (2025): The Future of Jobs Report 2025. Grafiken:
Grafiken:
- World Economic Forum (2025): The Future of Jobs Report 2025. WEF, Genf. https://www.weforum.org/publications/the-future-of-jobs-report-2025
Der Beitrag Future Skills 2030: Leider weit weg von der Wirklichkeit erschien zuerst auf Svenja Hofert.