Die Coaching- und Change-Expertin Svenja Hofert enttarnt Coaching-Mythen. Sie geht dabei den Glaubenssätzen von Coaches auf den Grund. Dies ist die zweite Folge. Die erste Folge mit den Mythen 1-3 finden Sie hier.
Coaches oder Menschen, die Coachingtechniken anwenden, artikulieren oft das Bedürfnis, alles verstehen zu wollen. Das zeigt sich auf zwei Ebenen: Zum einen das Bedürfnis nach einem analytischen Verständnis des „Problems“, „Ziels“ oder der Fallschilderung. Zum anderen das Streben nach einem emotionalen Nachempfinden des Geschilderten.
Dieses Verlangen führt oft zu einem investigativen Befragen, schon während der Auftragsklärung. Doch das hat seinen Preis: Es geht auf Kosten der Beziehung. Während ich versuche, „alles zu wissen“, verliere ich den Kontakt.
Fragen ist nicht gleich Fragen.
Es gibt außerdem einen klaren Unterschied zwischen dem Fragen im Coaching und dem Fragen in der Organisationsberatung, der nicht immer gut herausgearbeitet wird.
Fallbeispiel
Anton hat ein Problem: Die anderen verstehen ihn nicht. Er ist eine „E9“ – ein neumodisches Stufending. Jede Nachfrage löst einen weiteren Redefluss aus, der sich auf Coachin Susanne ergießt. Sie bemüht sich heftig, alles zu verstehen. Gleichzeitig schleicht sich bei ihr ein Gedanke ein: „Bin ich vielleicht einfach zu blöd für Anton?“
Was Susanne dabei nicht bemerkt: Während sie sich immer tiefer in ihren eigenen Gedanken verliert, verpasst sie ihre eigenen Reaktionen. Sie übersieht, wie sie unbewusst der Projektion „Ich bin schlau und du bist blöd“ verfällt. Und sie merkt nicht, dass sie ständig nach der „perfekten“ nächsten Frage sucht.
Weil sie so mit sich selbst beschäftigt ist, bemerkt sie auch nicht, dass sie gerade in Echtzeit erlebt, was Antons Problem ist. Allerdings nicht auf der verbalen, sondern auf der körperlichen Ebene.
Oft erlebe ich, wie auch ausgebildete Coaches erleichtert aufatmen, wenn ich ihnen sage: „Du musst nichts verstehen.“ Natürlich gibt es Kontexte, in denen analytisches Verständnis – etwa von Gesellschafterverträgen – hilfreich ist. Aber das ist ein anderer Mythos, wartet´s ab.
Wir können einen anderen Menschen ohnehin nie vollständig verstehen. Jeder Versuch ist ein Abgleich mit dem, was wir selbst in uns abgespeichert haben. Wir sortieren die Eindrücke fröhlich in unsere inneren Schubladen à la „Das kenne ich schon“.
Doch Zuhören ist nicht Verstehen-Wollen und auch kein verzweifelter Versuch, den gedanklichen Pfaden des Gegenübers zu folgen.
Zuhören ist vielmehr ein körperliches Erleben von Resonanz – ein Mitschwingen.
Was meint ihr? Kann man Mitschwingen lernen? Und wie?
𝐂𝐨𝐚𝐜𝐡𝐢𝐧𝐠-𝐌𝐲𝐭𝐡𝐞𝐧 (𝟒): 𝐂𝐨𝐚𝐜𝐡𝐢𝐧𝐠 𝐟ü𝐡𝐫𝐭 𝐳𝐮 𝐢𝐧𝐧𝐞𝐫𝐞𝐫 𝐊𝐥𝐚𝐫𝐡𝐞𝐢𝐭. Nicht immer
„Endlich habe ich Klarheit.“ Schön wär´s. Coaching sorgt manchmal auch für mehr Verwirrung. Man geht klar rein und kommt konfus raus.
Ein Grund: Das selbst erdachte Ziel wird in Wahrheit von der inneren Verteidigungsministerin vorgeschickt. Sie möchte den Selbsterhalt um jeden Preis. Bloß nicht neu denken. Aus dieser Logik heraus wird dann ein Ziel formuliert.
Für den Coach kann das bedeuten, dass es – meiner Erfahrung nach oft in der 3. oder 4. Stunde – zäher wird. Projektionen werden offensichtlich, Übertragung und Gegenübertragung sind in vollem Gang.
Es zeigt sich, dass man doch nicht will, was man zu wollen glaubte.
Es kann nun passieren, dass man gewahr wird, dass Unternehmen, Bereich, Job oder Umfeld nicht mehr zu einem passt. Das hat viel mit persönlichen Lebensphasen zu tun und noch mehr mit Entwicklung.
Zielkonflikte können auftauchen. Oder auch das Bewusstsein größer werden, dass es besser wäre, auf die bisherigen Ziele zu verzichten.
Fallbeispiel:
Matilda dachte immer, es wäre ihr absoluter Traum in einem Markenkonzern Marketingleiterin zu werden. Als sie dasmit 30 geschafft hatte, fühlte es sich leer an. Die Personalabteilung spendierte ein Business Coaching, doch schnell stellte sich heraus, dass es um grundlegende Überzeugungen ging. Sie war nicht sich selbst, sondern dem Reiz des Außen gefolgt. Jetzt war sie total verwirrt.
Es kam ein „In-Between“ oder auch Schneekugeleffekt: Man verliert die Klarheit, hat gemischte Gefühle. Ich kenne einige Coachs, die Schwierigkeiten damit haben, das auszuhalten – oder vielmehr den Prozess in solchen Situationen zu halten. Sie fühlen sich schuldig. Denken, Sie hätten die Verantwortung, dass es dem anderen gut geht, er/sie zu einer Lösung kommt.
Deshalb sollten wir uns immer fragen, ob wir auch halten können, was wir anstoßen. Denn selbst eine sehr einfache und zunächst nicht mal emotionale Frage wie „was ist das, was sie als Leere beschreiben?“ kann so Einiges in Bewegung bringen.
Ja, viele suchen ein Coaching, um Klarheit über etwas zu gewinnen. Aber der Weg zur Klarheit kann über den Zustand der Verwirrung führen. Denn Reflexion steigert die innere Komplexität. Das hat Risiken und Nebenwirkungen. Es kann den Schlaf rauben, Sicherheiten ins Wanken bringen.
Fallbeispiel:
Matilda brauchte mehrere Coachs, bis sie sich für einen Bruch mit der bisherigen Karriere und einen beruflichen Neustart entschied. Das ist auch so eine Erfahrung: Es liegt nicht am Coach, sondern am Punkt, an dem der Coachee steht und das echte, tiefe Bedürfnis. Manchmal bringt dann jemand anderes zur Blüte, was als kleiner Samen beim ersten Coach begann. Und manchmal ist es eben doch Therapie, die es braucht.
Was meint ihr? Was ist eure Erfahrung mit dem Schneekugeleffekt?
Coaching-Mythen (5): 𝐖𝐞𝐧𝐧 𝐝𝐚𝐬 𝐙𝐢𝐞𝐥 𝐝𝐚𝐬 𝐋𝐞𝐛𝐞𝐧 𝐯𝐞𝐫𝐡𝐢𝐧𝐝𝐞𝐫𝐭 – weg damit.
„Im Coaching-Prozess definieren Coach und Klient die Zielsetzung und das konkrete Anliegen“, heißt es auf der Website der Rauen Group von Dr. Christopher Rauen
(Fast) alle Coaching-Ausbilder betonen, dass Ziele im Coaching wichtig sind. Das stimmt jedoch nur teilweise. Längst nicht immer sind Ziele zielführend.
Manchmal ist auch das Gegenteil wahr: Ziele können das Leben behindern.
Besonders trifft das auf Menschen zu, die lange Zeit sehr zielstrebig waren. Sie rasen auf ihre Ziele zu, nur um irgendwann festzustellen, dass diese weder ihre eigenen noch ihre wahren Maßstäbe waren.
Ein Beispiel aus meinem Bekanntenkreis – wie immer mit fiktiven Namen:
Fallbeispiel
Thomas war stets ein Überflieger. Schon mit 18 hatte er sein erstes Unternehmen gegründet. Ständig flitzte er auf der Überholspur zum nächsten Ziel. An der Uni, als Unternehmer und sogar als Serien-Nebenberufler, der sich für soziale Themen einsetzte. Der leise Zweifel, ob das alles „sein Leben“ war, der nagte immer wieder. Doch vor lauter Zielen kam er nicht dazu, darüber nachzudenken.
Ziele geben Orientierung, doch sie stehen uns auch im Weg. Besonders dann, wenn es nicht unsere eigenen Ziele sind. Was man bisweilen gar nicht merkt.
Viele verfolgen über Jahre oder Jahrzehnte Pläne anderer (Familie, Ahnen, Peergruppen, Ehepartner…), ohne es zu merken. Oder vielmehr: ohne das nagende Gefühl, im falschen Leben zu sein, wirklich an sich heranzulassen.
Manchmal hängt es auch mit Lebensphasen zusammen (siehe dazu mein Karrierelebensphasenmodell). Was früher stimmig war, passt irgendwann nicht mehr. Der Weg zur Reflexion führt nicht selten über einen äußeren Bruch:
*Ein unerwarteter Jobverlust.
*Eine abgerissene Erfolgskette.
*Oder neue Beziehungen, die auch neue Lebensentwürfe offenbaren.
Ein Extremfall ist die „Zielkrankheit“: Menschen sind so mit ihren Zielen verheiratet, dass sie keinen Zentimeter nach links oder rechts blicken können. Das was einerseits für Zielerreichung so gut und wichtig ist (besser alles auf Plan A!), hier wird es zum Gesundheitskiller.
Die esoterische Variante zeigt sich, wenn jemand glaubt, er könne sich das Traumleben herbeimanifestieren. Dieses Traumleben ist oft völlig unrealistisch und wird meist von narzisstischen „Seelenräubern“ propagiert, die daran gut verdienen.
Doch was wäre, wenn man auf ein Ziel verzichtet? Einfach so in den Tag lebt?
Ja, dann muss man sich spüren, was will ich einfach? Vielleicht ins Museum? Die Natur? Zu Freunden? Kein Ziel zu haben fordert MICH:
Ich habe oft Coachees dabei begleitet, ihre Ziele loszulassen. Häufig war das der Beginn größerer innerer Bewegungen.
Eine Zielvereinbarung kann man trotzdem machen. Denn meist wird in solchen Fällen in den ersten Stunden vehement ein Ziel angesteuert. Ich ahne dann schon, dass es anders kommt – aber das muss ja niemand wissen.
Foto von cottonbro studio: https://www.pexels.com/de-de/foto/mann-paar-menschen-buro-4101143/
Der Beitrag Coaching-Mythen 2: Vom Verstehen-Wollen, Verwirrung und falschen Zielen erschien zuerst auf Svenja Hofert.